
es ist keine besondere straße sie liegt so da still vor sich hin befahren ist sie auch etwas ein bisschen grün ist an der kreuzung am ende der straße eine imbissbude die geschlossen ist vielleicht für immer vielleicht bis morgen früh wer weiß das schon ich schaue durch ihre fenster rein ich schaue in alles hinein ich frage mich ob es die bude schon gab 1996 ob hier diese bude so ein ort war wo man aus dem gebäude von gegenüber kurz rausspringen sich einen döner kaufen und sich satt essen konnte und dann wieder schnell zurück ins zu haus das asylheim zurückging war das so ein ort der den menschen für ein schnelles essen gedient hat den menschen die gegenüber der bude gewohnt haben 1996
1996 gab es in der Lübecker Hafenstraße einen Brandanschlag auf ein Haus für Asylbewerber*innen, bei dem zehn Menschen starben und 55 weitere verletzt wurden. Das Verbrechen wurde nie aufgeklärt, ein rassistischer Tathintergrund gilt als „unklar“ und einzig ein Gedenkstein erinnert heute noch daran. Während Özlem Özgül Dündar in ihrem Text durch Lübeck flaniert, rekonstruiert sie die Ereignisse des Brandanschlags und macht erfahrbar, wie die Winterluft des 18. Januars 1996 auch im September 2020 noch zu spüren ist.
Özlem Özgül Dündar, 1983* in Solingen, lebt in Leipzig und Solingen, studierte Literatur und Philosophie in Wuppertal und am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Sie performt mit ihren Kollektiven Ministerium für Mitgefühl, Kanak Attak Leipzig und kollektiv flexen und arbeitet als Übersetzerin. Sie erhielt 2018 den Kelag-Preis in Klagenfurt und das Rolf-Dieter-Brinkmann-Stipendium. Ihr Gedichtband gedanken zerren erschien 2018 beim ELIF Verlag. Sie ist Mitherausgeberin der Anthologie Flexen – Flâneusen* schreiben Städte (Verbrecher Verlag 2019).